Koldeweys Verehrung für Gertrude Bell wird im Roman überdeutlich. Dabei spielt auch ihre Reputation bei archäologischen Ausgrabungen eine Rolle, bei denen Frauen ja seiner Meinung nach nichts zu suchen haben. Ihr zollt er aber Anerkennung! Auch Eifersucht kommt hinzu, denn es geht das Gerücht, Bell habe einen Liebhaber (was übrigens der Realität entspricht, denn sie hatte seit dem Frühling 1913 ein Verhältnis mit dem britischen Offizier Charles Doughty-Wylie).
Die Autorin suggeriert uns, dass ihr Held auf irgendeine Weise in Bell verliebt ist: er vergisst seine Krankheit, springt übermütig die Treppe hinab und läuft ihr entgegen.
Der Leser ist erfreut: endlich passiert mal was! Wir freuen uns mit Koldewey auf die Begegnung. Leider bricht der Roman kurz davor ab. Was wir statt dessen bekommen, ist die Schilderung des Laufs quer durch Babylon, vorbei an allen architektonischen Höhepunkten bis hin zum Turm von Babel, an dem Bell ihre Messungen macht (S. 163-202, 246-267). Bell ist für die Autorin nur das Mittel zum Zweck, diesen spektakulären Lauf durch die Stadtlandschaft in die Architektur ihres Romans einzubauen, und diese Architektur ist bestimmt von der Parallelität der beiden Städte Babylon und Berlin. Es gibt ja noch den anderen Lauf Koldeweys: den durch Berlin zum Kaiser, der seine Ausgrabungen seit Jahren großmütig unterstützt (S. 205-243). Dazu im nächsten Bericht mehr.
Montag, 4. Mai 2020
Dienstag, 28. April 2020
Kommentare
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Samstag, 25. April 2020
Hinweis für neue Leser dieses Blogs
Neue Leser des Blogs möchte ich darauf hinweisen, dass es oben in der rechten Blogspalte die Möglichkeit gibt, sich mit seiner E-Mail anzumelden. Dann erhalten Sie immer eine Nachricht, wenn ein neuer Beitrag erscheint.
Der aktuellste Beitrag steht immer oben. Wer das Blog in seiner zeitlichen Reihenfolge lesen möchte, muss zum ersten Beitrag vom 5. April herunterscrollen.
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Das Gertude Bell Archiv
Der Nachlass von Gertrude Bell befindet sich im Archiv der Newcastle University. Er ist auf vorbildliche Weise digital aufbereitet:
Gertrude Bell Archive
Bell war 1909, 1911 und 1914 bei Koldewey in Babylon. 1909 war er so krank, dass sie ihn gar nicht gesehen hat und mit Buddensieg vorlieb nehmen musste. Die Fotografien, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, die sich auf diese drei Aufenthalte beziehen, sind auf der Website mit den Suchbegriffen "Koldewey" und "K." schnell zu finden. Man kann sich dabei auch einen Eindruck von den Grabungsassistenten Buddensieg und Wetzel machen. Die Fotos von der Reise 1914 befinden sich im Album Y (Y 390-406).
Gertrude Bell Archive
Bell war 1909, 1911 und 1914 bei Koldewey in Babylon. 1909 war er so krank, dass sie ihn gar nicht gesehen hat und mit Buddensieg vorlieb nehmen musste. Die Fotografien, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, die sich auf diese drei Aufenthalte beziehen, sind auf der Website mit den Suchbegriffen "Koldewey" und "K." schnell zu finden. Man kann sich dabei auch einen Eindruck von den Grabungsassistenten Buddensieg und Wetzel machen. Die Fotos von der Reise 1914 befinden sich im Album Y (Y 390-406).
Donnerstag, 23. April 2020
Gertrude Bell (2)
Merkwürdig: Die viereinhalbmonatige Rundreise auf Kamelen durch die syrische Wüste hat Gertrude Bell vom 16.12.1913 bis zum 1. Mai 1914 gemacht. Vom 26.3.-12.4. 1914 legte sie in Bagdad eine Pause ein. Währenddessen machte sie einen mehrtägigen Besuch bei Robert Koldewey im nahen Babylon (30.3.-1.4.). Dieses Treffen beziehungsweise die Tagebuchberichte und Briefe Bells darüber bilden die Grundlage für die im Roman beschriebenen Szenen. Allerdings kam er ihr nicht entgegen, sondern sie suchte ihn im Expeditionshaus auf.
Cusanit lässt den Roman aber im Jahr 1913 spielen. 1913 war Bell jedoch bis November in London. Warum diese Zeitverschiebung?
Da Cusanit auch den in der zweiten Hälfte beschriebenen Besuch Koldeweys in Berlin ein Jahr früher datiert (1909 statt 1910) vermute ich, dass die Autorin ihr literarisches Koldewey-Bell-Universum einfach ein Jahr vorverlegt, um in dieser erfundenen Dimension größere dichterische Freiheit zu haben. So nah sie auch an ihren Protagonisten ist, so groß ist doch der Anteil der literarischen Phantasie, zum Beispiel, wenn sie uns Koldeweys Gedanken und Wahrnehmungen schildert, aus denen ja letztlich das ganze Buch besteht. Und so kann sie Koldewey in freudiger Erregung Bell entgegenlaufen lassen, was ja für die Struktur des Romans eine wichtige Sache ist.
Vielleicht spielt auch das sehr erfolgreiche Buch von Florian Illies über das "Wunderjahr" 1913 eine Rolle, das 2012 erschienen war und viele Auflagen erlebt hat. 1913: Das klingt einfach sympathischer als das schreckliche Kriegsjahr 1914.
Sonntag, 19. April 2020
Wer war Gertude Bell?
Zu den biographischen Fakten kann man am besten den Wikipedia-Artikel konsultieren. Hier nur eine kurze Einschätzung:
Gertrude Bell (1868-1926) war in den letzten zwei Jahrzehnten ihres Lebens eine der intrigierendsten und außergewöhnlichsten Frauen der europäischen und arabischen Welt. Sie war sozusagen das weibliche Pendant zu T.E. Lawrence (mit dem sie eng befreundet war) und eher noch einflussreicher als er, was die britische Nahostpolitik nach dem Ersten Weltkrieg betraf. Sie nahm als einzige Frau an der Kairo-Konferenz von 1921 teil und gab unter anderem entscheidende Hinweise zur Grenzziehung des neuen Staates Irak, pur weil sie die wichtigsten Scheichs der verschiedenen Stämme persönlich kannte. Das Foto zeigt Gertude Bell während der Kairo-Konferenz, links von ihr der britische Kolonialminister Churchill, rechts von ihr T.E. Lawrence:
T.E. Lawrence ist im Nachkriegseuropa vor allem durch den legendären Film "Lawrence of Arabia" (1962) ein Mythos geblieben. Gertrude Bell war dagegen nach dem Zweiten Weltkrieg so gut wie vergessen. Erst 2015 kam durch den Film "Queen of the Desert" von Werner Herzog ein Revival in Gang. Herzog legte aber den Focus - verständlicher Weise - auf die Liebesgeschichten. Der einzigartigen Persönlichkeit Bells wird er damit nicht gerecht. Aber es gibt Literatur genug dazu!
Gertrude Bell (1868-1926) war in den letzten zwei Jahrzehnten ihres Lebens eine der intrigierendsten und außergewöhnlichsten Frauen der europäischen und arabischen Welt. Sie war sozusagen das weibliche Pendant zu T.E. Lawrence (mit dem sie eng befreundet war) und eher noch einflussreicher als er, was die britische Nahostpolitik nach dem Ersten Weltkrieg betraf. Sie nahm als einzige Frau an der Kairo-Konferenz von 1921 teil und gab unter anderem entscheidende Hinweise zur Grenzziehung des neuen Staates Irak, pur weil sie die wichtigsten Scheichs der verschiedenen Stämme persönlich kannte. Das Foto zeigt Gertude Bell während der Kairo-Konferenz, links von ihr der britische Kolonialminister Churchill, rechts von ihr T.E. Lawrence:
T.E. Lawrence ist im Nachkriegseuropa vor allem durch den legendären Film "Lawrence of Arabia" (1962) ein Mythos geblieben. Gertrude Bell war dagegen nach dem Zweiten Weltkrieg so gut wie vergessen. Erst 2015 kam durch den Film "Queen of the Desert" von Werner Herzog ein Revival in Gang. Herzog legte aber den Focus - verständlicher Weise - auf die Liebesgeschichten. Der einzigartigen Persönlichkeit Bells wird er damit nicht gerecht. Aber es gibt Literatur genug dazu!
Donnerstag, 16. April 2020
Der Brief von Konsul Hesse: Bell kommt!
Am letzten der 93 Briefe bleibt Koldewey hängen. Er stammt vom Bagdader Konsul Hesse, der ihm die Ankunft von Gertrude Bell in Babylon ankündigt und zwar genau für diesen Tag, an dem Koldewey krank in seinem Zimmer sitzt. Er kommt gewaltig ins Sinnieren, und wir werden auf den nächsten neunzig Seiten sehr Vieles erfahren, auch über Gertrude Bell. Immer wieder sieht er auf den Brief in seiner Hand (S. 67, 77, 81f., 100, 102, 104, 107, 118ff.). Dann steht er trotz seiner Schmerzen auf (S. 157), verlässt sein Zimmer, läuft an Buddensieg vorbei, der verwundert zuschaut, wie er "hinkend den Gang hinunterging und dann auf der Treppe mehrere Stufen in einem Satz nahm" (!!!).
Das alles, um Gertrude Bell entgegenzugehen! Wer war diese Frau, die ihm, dem Frauenverächter, offenbar sehr viel bedeutete?
Das alles, um Gertrude Bell entgegenzugehen! Wer war diese Frau, die ihm, dem Frauenverächter, offenbar sehr viel bedeutete?
Gertrude Bell |
Mittwoch, 15. April 2020
Vergangenheit in der Gegenwart: Fotografie
Das Fotografieren ist für die Arbeit des Grabungsteams von großer praktischer Bedeutung: Koldeweys Assistenten machen Aufnahmen von den hunderten oder tausenden mit Keilschriftzeichen versehenen Tontafeln. Eine ganze Bibliothek von Nebukadnezar tut sich auf!
Anders als die 500 Kisten mit glasierten Ziegeln, die seit Jahren im Expeditionshaus gelagert wurden, konnten diese Fotos einfach per Post nach Berlin geschickt werden, wo die Philologen begierig auf sie warteten.
Doch die Fotografie gehört auch zu der Gruppe synästhetischer Künste, die die Schreibmethode Cusanits bilden. Ich bin mir nicht sicher, ob der historische Koldewey wirklich ein so intensives philosophisches Verhältnis zur Kunst und Technik des Fotografierens gehabt hat, wie es bei der Romanfigur der Fall ist (vgl. S. 25-29 und 37-41). Dort sinniert Koldewey über ein Foto mit Schafen und Kindern am Euphrat, das ihm in die Hand fällt:
Cusanit beginnt den ersten Teil des Romans mit einem Motto von Roland Barthes aus seinem Buch "Die helle Kammer": "Von nun an ist die Vergangenheit so gewiß wie die Gegenwart, ist das, was man auf dem Papier sieht, so gewiß wie das, was man berührt."
Auf jedem Foto reicht ein Moment der Vergangenheit in die Gegenwart hinein. Vergangenheit wird gegenwärtig: Dasselbe geschieht ja bei der Ausgrabung. Das alte Babylon kommt wieder ans Licht der Welt! Nicht zufällig wird im Roman der Grabungsschacht einmal als "Dunkelkammer" bezeichnet (S. 185). Babylon wird "entwickelt".
Diese Überlegungen am Anfang sind eng verbunden mit dem, was am Ende über das Verhältnis von Berlin und Babylon gesagt wird.
Anders als die 500 Kisten mit glasierten Ziegeln, die seit Jahren im Expeditionshaus gelagert wurden, konnten diese Fotos einfach per Post nach Berlin geschickt werden, wo die Philologen begierig auf sie warteten.
Doch die Fotografie gehört auch zu der Gruppe synästhetischer Künste, die die Schreibmethode Cusanits bilden. Ich bin mir nicht sicher, ob der historische Koldewey wirklich ein so intensives philosophisches Verhältnis zur Kunst und Technik des Fotografierens gehabt hat, wie es bei der Romanfigur der Fall ist (vgl. S. 25-29 und 37-41). Dort sinniert Koldewey über ein Foto mit Schafen und Kindern am Euphrat, das ihm in die Hand fällt:
Cusanit beginnt den ersten Teil des Romans mit einem Motto von Roland Barthes aus seinem Buch "Die helle Kammer": "Von nun an ist die Vergangenheit so gewiß wie die Gegenwart, ist das, was man auf dem Papier sieht, so gewiß wie das, was man berührt."
Auf jedem Foto reicht ein Moment der Vergangenheit in die Gegenwart hinein. Vergangenheit wird gegenwärtig: Dasselbe geschieht ja bei der Ausgrabung. Das alte Babylon kommt wieder ans Licht der Welt! Nicht zufällig wird im Roman der Grabungsschacht einmal als "Dunkelkammer" bezeichnet (S. 185). Babylon wird "entwickelt".
Diese Überlegungen am Anfang sind eng verbunden mit dem, was am Ende über das Verhältnis von Berlin und Babylon gesagt wird.
Dienstag, 14. April 2020
Cusanits Methode (5): synästhetische Schreibkunst
Zurück zum Anfang des Romans: gleich in den ersten Zeilen des ersten Teils geht es um den aquarellistischen Blick Koldeweys: "Es war ein mesopotamisches Gelb. Wie gemacht zum Davorstehen, Hinsehen, Aquarellieren - seine Lieblingsart, diese Gegend zu kartieren, Schlamm als Impression, Lehm, der sich durchs Wasser bewegte, indem er sich drehte" (S. 11).
Erste Sätze sind Autoren sehr wichtig, und mir scheinen diese hier, zusammen mit dem Zitat aus dem letzten Beitrag, eine programmatische Absicht für den ganzen Roman zu enthalten: Cusanit schreibt ihren Roman wie ein Aquarell, in dem Formen und Farben zusammenfließen. Sie erfindet eine synästhetische Schreibkunst, in der Aquarellistik, Fotografie, Karthografie und Literatur sich vermischen. Sie fühlt sich ihrem Gegenstand, der historischen Figur Koldewey, sehr nah, und sie überträgt seine Methodik des Ausgrabens auf ihren Roman, beziehungsweise sie schiebt uns als Lesern diese Aufgabe zu: greift zur Schaufel!
Dafür ist die Form des Blogs sehr gut geeignet. Man kann immer mal wieder eine Pause machen.
Erste Sätze sind Autoren sehr wichtig, und mir scheinen diese hier, zusammen mit dem Zitat aus dem letzten Beitrag, eine programmatische Absicht für den ganzen Roman zu enthalten: Cusanit schreibt ihren Roman wie ein Aquarell, in dem Formen und Farben zusammenfließen. Sie erfindet eine synästhetische Schreibkunst, in der Aquarellistik, Fotografie, Karthografie und Literatur sich vermischen. Sie fühlt sich ihrem Gegenstand, der historischen Figur Koldewey, sehr nah, und sie überträgt seine Methodik des Ausgrabens auf ihren Roman, beziehungsweise sie schiebt uns als Lesern diese Aufgabe zu: greift zur Schaufel!
Dafür ist die Form des Blogs sehr gut geeignet. Man kann immer mal wieder eine Pause machen.
Koldewey als Aquarellist und Zeichner
Bis ins 20. Jahrhundert hinein mussten Naturforscher, Reisende und Archäologen über sehr gute Fähigkeiten im Zeichnen verfügen. Robert Koldewey galt als ausgezeichneter Aquarellist. Das hat übrigens auch bei der Einwerbung finanzieller Mittel für die Ausgrabung eine Rolle gespielt. Hätte er den Geldgebern nur eine Fotografie der öden Erdhügel vorgelegt, unter denen Babylon verborgen lag, wäre der Erfolg nicht sicher gewesen. Er hat Aquarelle gemalt (von denen ich leider keine Abbildung habe). Cusanit beschreibt die Ankunft in Babylon:
"Gleich würde er beginnen, Skizzen anzufertigen, später aquarellieren: seine Vorstellung eines Mythos in dem Augenblick, da dieser auf die Realität traf (...). Zu aquarellieren war keine präzise Tätigkeit. Es war eine unvollständige Aufnahme von Unausgegrabenem, mit der Absicht es vollständig erscheinen zu lassen, indem man versuchte, alle Sinne in die Darstellung miteinzubeziehen, sie durch das Nadelöhr des Blickes zu ziehen" (S.261).
Ein Beispiel einer Skizze ist im Roman enthalten (siehe den vorigen Beitrag). Ein eindrucksvolles Beispiel seiner Zeichenkunst ist dieses Bild etruskischer Deckenfragmente, das er während seines Studiums an der Berliner Bauakademie zur Übung angefertigt hat:
"Gleich würde er beginnen, Skizzen anzufertigen, später aquarellieren: seine Vorstellung eines Mythos in dem Augenblick, da dieser auf die Realität traf (...). Zu aquarellieren war keine präzise Tätigkeit. Es war eine unvollständige Aufnahme von Unausgegrabenem, mit der Absicht es vollständig erscheinen zu lassen, indem man versuchte, alle Sinne in die Darstellung miteinzubeziehen, sie durch das Nadelöhr des Blickes zu ziehen" (S.261).
Ein Beispiel einer Skizze ist im Roman enthalten (siehe den vorigen Beitrag). Ein eindrucksvolles Beispiel seiner Zeichenkunst ist dieses Bild etruskischer Deckenfragmente, das er während seines Studiums an der Berliner Bauakademie zur Übung angefertigt hat:
Montag, 13. April 2020
Cusanits Methode (4): ein rhapsodischer Roman
Der Roman enthält viele weitere rhapsodische Kurzpassagen, die inhaltlich und formal äußerst divers sind. Sie werden von der Autorin auf der personalen Koldewey-Erzählebene eingestreut: als etwas, das er gerade liest, sieht, worüber er nachdenkt oder woran er sich erinnert. Es gibt ja nur ihn als handelnde, wahrnehmende und sich erinnernde Figur. Die drei Grabungsassistenten Wetzel, Reuther und Buddensieg, die einzigen deutschen Romanfiguren auf der Jetztzeitebene von Koldewey im Jahr 1913, bleiben im Vergleich zu ihm marginal.
Hier noch ein paar Beispiele von rhapsodischen Elementen, zu denen ich mich nicht im Einzelnen äußern werde: die Passage über den Eiffelturm mit den Namen der 72 Konstrukteure (S.96-100), die Passage über den Ziehbrunnen und seine Bedeutung beim Aufstieg und Untergang großer Reiche (S. 169-174+182), die Passage über Frauen und ihre Nichteignung für den Archäologenberuf ("bis auf Bell natürlich", S. 175), der Briefwechsel mit Walter Andrae über die Reparatur des Bootes (S. 209-213, 220-223 und 244).
Aber in der Gesamtanlage des Romans gibt es noch einige durchgehende Elemente, die für den Zusammenhalt und die Ästhetik des Ganzen von Bedeutung sind.
Dazu in den nächsten Tagen mehr.
Hier noch ein paar Beispiele von rhapsodischen Elementen, zu denen ich mich nicht im Einzelnen äußern werde: die Passage über den Eiffelturm mit den Namen der 72 Konstrukteure (S.96-100), die Passage über den Ziehbrunnen und seine Bedeutung beim Aufstieg und Untergang großer Reiche (S. 169-174+182), die Passage über Frauen und ihre Nichteignung für den Archäologenberuf ("bis auf Bell natürlich", S. 175), der Briefwechsel mit Walter Andrae über die Reparatur des Bootes (S. 209-213, 220-223 und 244).
Der Ziehbrunnen, Skizze von Robert Koldewey, S. 182 |
Aber in der Gesamtanlage des Romans gibt es noch einige durchgehende Elemente, die für den Zusammenhalt und die Ästhetik des Ganzen von Bedeutung sind.
Dazu in den nächsten Tagen mehr.
Sonntag, 12. April 2020
Cusanits Methode (3): 202 Arbeiter
Auf den Seiten 195-202 konfrontiert die Autorin uns mit einer für einen Roman sehr ungewöhnlichen Sache: Koldewey ruht sich aus und findet in einem alten Arbeitskalender, den er versehentlich eingesteckt hat, eine Liste mit den Namen der arabischen Grabungshelfer, die jahrelang gegen geringen Lohn bei glühender Hitze im Dreck gebuddelt haben. Cusanit nimmt alle 202 Namen in den Roman auf! Warum tut sie das? Ich könnte mir vorstellen, dass mancher Leser ratlos vor diesen Seiten sitzt.
Statt einer Antwort erinnere ich an ein berühmtes Gedicht von Bertolt Brecht: "Fragen eines lesenden Arbeiters". Lesen Sie es und wenden Sie es auf die Situation im Roman an!
Statt einer Antwort erinnere ich an ein berühmtes Gedicht von Bertolt Brecht: "Fragen eines lesenden Arbeiters". Lesen Sie es und wenden Sie es auf die Situation im Roman an!
Cusanits Methode (2): 93 Briefe
"Im strengsten Sinne episch und rhapsodisch", schreibt Benjamin: also breit, ausführlich und detailreich auf der einen und kurz, flott, die Themen nur anstippend, auf der anderen Seite. Das scheint sich zu widersprechen, ist aber genau das poetologische Programm, dem Kenah Cusanit in diesem Roman folgt. Nehmen wir zum Beispiel die Briefe!
Die Autorin hat für ihr Projekt wochenlang im Archiv des Vorderasiatischen Museums in Berlin gesessen und den Nachlass Robert Koldeweys studiert: viele hundert Briefe und Dokumente. Zur Verarbeitung der umfangreichen und thematisch diversen Informationen denkt sie sich einen raffinierten Trick aus, und damit sind wir wieder am Anfang des Romans: Koldewey sitzt krank in seinem Arbeitszimmer, guckt aus dem Fenster, langweilt sich und greift nach dem großen Stapel Briefe, die auf seinem Tisch liegen. Er geht sie noch einmal durch. Auf den Seiten 43-67 wird aus jedem der sage und schreibe 93 Briefe ein kurzer Auszug erwähnt, oft ist das nur ein einziger Satz. Für uns als Leser entwickelt sich daraus ein Panorama der Arbeits- und Lebenswelt Koldeweys: ausführlich und kurz, thematisch höchst unterschiedlich und sehr aufschlussreich! Na, bitte!
Die Autorin hat für ihr Projekt wochenlang im Archiv des Vorderasiatischen Museums in Berlin gesessen und den Nachlass Robert Koldeweys studiert: viele hundert Briefe und Dokumente. Zur Verarbeitung der umfangreichen und thematisch diversen Informationen denkt sie sich einen raffinierten Trick aus, und damit sind wir wieder am Anfang des Romans: Koldewey sitzt krank in seinem Arbeitszimmer, guckt aus dem Fenster, langweilt sich und greift nach dem großen Stapel Briefe, die auf seinem Tisch liegen. Er geht sie noch einmal durch. Auf den Seiten 43-67 wird aus jedem der sage und schreibe 93 Briefe ein kurzer Auszug erwähnt, oft ist das nur ein einziger Satz. Für uns als Leser entwickelt sich daraus ein Panorama der Arbeits- und Lebenswelt Koldeweys: ausführlich und kurz, thematisch höchst unterschiedlich und sehr aufschlussreich! Na, bitte!
Samstag, 11. April 2020
Cusanits Methode (1): eine archäologische Erzählweise
Am Ende des Gesprächs mit Dennis Scheck (Blog-Post vom 5. April) hat Kenah Cusanit ihre Erzählmethode mit der Arbeitsweise der Archäologen verglichen: man müsse ja nicht unbedingt im Erdboden herumgraben, sondern könne das auch "in den Höhlen der Zivilisation" tun. Und so ist "Babel" in doppelter Hinsicht ein archäologischer Roman: vom Thema her und von der Erzählweise her. Die Autorin baut den Roman in verschiedenen Schichten auf, die jede für sich eine neue Sichtweise auf das Ganze ermöglichen. Auf diese Weise erhalten wir neben dem Blick in eine zweieinhalbtausendjährige Vergangenheit ein vielfältiges Bild der zwei Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg in Babylon und auch in Berlin. Dort, in der deutschen Reichshauptstadt, sitzen die Vorgesetzten und Geldgeber, die Bewunderer und Neider, die Kollegen und Konkurrenten von Koldewey. Und der Kaiser selbst, der sich sehr für das Projekt interessierte.
Das Gesamterzählfeld ist viel zu groß, als dass Cusanit es bewältigen könnte. Sie muss Punkte bestimmen, an denen sie zu "graben" anfängt. Im Motto zum zweiten Teil (S.161) zitiert sie eine Passage aus Walter Benjamins kleiner Schrift "Berliner Chronik (1932):
"Und gewiß bedarf es, Grabungen mit Erfolg zu unternehmen, eines Plans. Doch ebenso ist unerläßlich der behutsame, tastende Spatenstich ins dunkle Erdreich und der betrügt sich selbst um das Beste, der nur das Inventar der Funde und nicht auch das dunkle Glück von Ort und Stelle des Findens selbst in seiner Niederschrift bewahrt. Das vergebliche Suchen gehört dazu so gut wie das glückliche und daher muß die Erinnerung nicht erzählend, noch viel weniger berichtend vorgehn, sondern im strengsten Sinne episch und rhapsodisch an immer andern Stellen ihren Spatenstich versuchen, in immer tieferen Schichten an den alten forschend."
Das gibt uns wertvolle Hinweise für den Umgang mit diesem Roman. Übrigens spricht auch Benjamin hier nicht vom Erdboden, sondern vom Graben in der Erinnerung. Es wird Zeit für konkrete Beispiele!
Das Gesamterzählfeld ist viel zu groß, als dass Cusanit es bewältigen könnte. Sie muss Punkte bestimmen, an denen sie zu "graben" anfängt. Im Motto zum zweiten Teil (S.161) zitiert sie eine Passage aus Walter Benjamins kleiner Schrift "Berliner Chronik (1932):
"Und gewiß bedarf es, Grabungen mit Erfolg zu unternehmen, eines Plans. Doch ebenso ist unerläßlich der behutsame, tastende Spatenstich ins dunkle Erdreich und der betrügt sich selbst um das Beste, der nur das Inventar der Funde und nicht auch das dunkle Glück von Ort und Stelle des Findens selbst in seiner Niederschrift bewahrt. Das vergebliche Suchen gehört dazu so gut wie das glückliche und daher muß die Erinnerung nicht erzählend, noch viel weniger berichtend vorgehn, sondern im strengsten Sinne episch und rhapsodisch an immer andern Stellen ihren Spatenstich versuchen, in immer tieferen Schichten an den alten forschend."
Das gibt uns wertvolle Hinweise für den Umgang mit diesem Roman. Übrigens spricht auch Benjamin hier nicht vom Erdboden, sondern vom Graben in der Erinnerung. Es wird Zeit für konkrete Beispiele!
Koldeweys Methode: archäologische Bauforschung
Kenah Cusanits eigentliches Thema sind nicht die spektakulären Funde, sondern der grabungstechnische Vorgang, der die Erkenntnis auch umfangreicher Grabungsfelder wie im Fall Babylons ermöglichen sollte. Koldewey war zusammen mit Wilhelm Dörpfeld im 19. Jahrhundert der Begründer der archäologischen Bauforschung, die gegenüber der traditionellen Archäologie revolutionär war.
"Die Engländer dachten in Funden, die Deutschen in Befunden" heißt es auf Seite 105f. In Babylon ging es um ein Grabungsfeld von zehn Quadratkilometern: Es wäre unmöglich gewesen, das Gebiet komplett abzugraben. Koldewey bestimmte die Punkte, an denen er fündig zu werden hoffte. Dabei half ihm auch die antike Beschreibung der Stadt durch Herodot. Die Ausgräber mussten sich durch zweieinhalbtausend Jahre Stadtgeschichte graben, bevor sie in einer Tiefe von 21 Metern auf das Babylon Nebukadnezars II. stießen. Alle Schichten, Funde und Mauern gehören zum Gesamtbefund. Cusanit beschreibt an mehreren Stellen im Roman seitenlang wie Koldewey dabei vorgegangen ist. Sie ist so fasziniert von seiner Methode, dass sie sie acht Seiten lang (183-191) brillant beschreibt. Sie sieht eine Verwandtschaft zu ihrer eigenen Methode in ihrem Romanprojekt.
"Die Engländer dachten in Funden, die Deutschen in Befunden" heißt es auf Seite 105f. In Babylon ging es um ein Grabungsfeld von zehn Quadratkilometern: Es wäre unmöglich gewesen, das Gebiet komplett abzugraben. Koldewey bestimmte die Punkte, an denen er fündig zu werden hoffte. Dabei half ihm auch die antike Beschreibung der Stadt durch Herodot. Die Ausgräber mussten sich durch zweieinhalbtausend Jahre Stadtgeschichte graben, bevor sie in einer Tiefe von 21 Metern auf das Babylon Nebukadnezars II. stießen. Alle Schichten, Funde und Mauern gehören zum Gesamtbefund. Cusanit beschreibt an mehreren Stellen im Roman seitenlang wie Koldewey dabei vorgegangen ist. Sie ist so fasziniert von seiner Methode, dass sie sie acht Seiten lang (183-191) brillant beschreibt. Sie sieht eine Verwandtschaft zu ihrer eigenen Methode in ihrem Romanprojekt.
Donnerstag, 9. April 2020
Ein Tag aus dem Leben Robert Koldeweys
Wir müssen uns aber von Anfang an klar machen, dass die Autorin nicht vorhatte, einen traditionellen historischen Roman zu schreiben, mit dem großen Archäologen Koldewey als Helden und seinen grandiosen Funden und der Rekonstruktion von Ischtar-Tor und Prozessionsstraße in Berlin fünf Jahre nach seinem Tod als Höhepunkt.
Zwar sollte man sich vor der Lektüre ein Bild davon machen, worum es dabei gegangen ist, und wer schon einmal in Berlin war, hat es wahrscheinlich selbst gesehen. Die Rekonstruktionen im Pergamonmuseum wurden in den zwanziger/dreißiger Jahren als große Sensation erfahren. Und deshalb habe ich auch den Löwen aus der Prozessionsstraße zum Hintergrundbild meines Blogs gemacht.
Kenah Cusanit baut in dem Roman mit literarischen Mitteln ein sehr komplexes Bild auf, in dem das Denken, die Erfahrungsweise, die Methoden und das Selbstbild deutscher Wissenschaftler und Politiker in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg im Mittelpunkt stehen.
Das alles legt sie in einen einzigen Tag aus dem Leben Robert Koldeweys, einen Tag im Jahre 1913 im deutschen Expeditionshaus in Babylon, den er kurioserweise zunächst krank oder eingebildet krank am Fenster seines Arbeitszimmers verbringt.
Mehr als die Hälfte des Romans wird er dort sitzen, aus dem Fenster gucken und in einem Stapel Briefe blättern.
Alle im Roman genannten Namen und alle handelnden Figuren betreffen reale Personen.
Zwar sollte man sich vor der Lektüre ein Bild davon machen, worum es dabei gegangen ist, und wer schon einmal in Berlin war, hat es wahrscheinlich selbst gesehen. Die Rekonstruktionen im Pergamonmuseum wurden in den zwanziger/dreißiger Jahren als große Sensation erfahren. Und deshalb habe ich auch den Löwen aus der Prozessionsstraße zum Hintergrundbild meines Blogs gemacht.
Kenah Cusanit baut in dem Roman mit literarischen Mitteln ein sehr komplexes Bild auf, in dem das Denken, die Erfahrungsweise, die Methoden und das Selbstbild deutscher Wissenschaftler und Politiker in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg im Mittelpunkt stehen.
Das alles legt sie in einen einzigen Tag aus dem Leben Robert Koldeweys, einen Tag im Jahre 1913 im deutschen Expeditionshaus in Babylon, den er kurioserweise zunächst krank oder eingebildet krank am Fenster seines Arbeitszimmers verbringt.
Mehr als die Hälfte des Romans wird er dort sitzen, aus dem Fenster gucken und in einem Stapel Briefe blättern.
Alle im Roman genannten Namen und alle handelnden Figuren betreffen reale Personen.
Das Expeditionshaus in Babylon (Babel, Seite 42) |
Dienstag, 7. April 2020
Die Hauptfigur: Robert Koldewey
Robert Koldewey, 31.3.1914, Foto: Gertrude Bell |
Die Hauptfigur des Romans ist der deutsche Archäologe und Bauforscher Robert Koldewey. Er war der Leiter eines Teams von Ausgräbern, die von 1899 bis 1917 das alte Babylon ausgegraben haben.
Aus den in mehr als zwanzig Metern Tiefe gefundenen glasierten Ziegeln sind in den zwanziger Jahren im Berliner Pergamonmuseum das Ischtar-Tor und die Prozessionsstraße aus der Regierungszeit von Nebukadnezar II. (640 v. Chr.- 562 v.Chr.) rekonstruiert worden. Sie gehören zu den Hauptattraktionen des Pergamonmuseums.
Der Roman und seine Autorin
"Babel" ist der erste Roman von Kenah Cusanit. Er ist im Januar 2019 im Hanser Verlag erschienen. 272 Seiten, € 23. Inzwischen gibt es bereits die 7. Auflage.
Kenah Cusanit ist 1979 in Blankenburg (DDR) geboren. Sie war als Wissenschaftsjournalistin tätig und hat zwei Bändchen mit Gedichten veröffentlicht.
Montag, 6. April 2020
Gespräch mit der Autorin
Für den Anfang ein Gespräch mit der Autorin aus der Sendung "Druckfrisch" am 27.1.2019 in der ARD.
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Dennis Scheck im Gespräch mit Kenah Cusanit über "Babel"
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Dennis Scheck im Gespräch mit Kenah Cusanit über "Babel"
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